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Diorama #5 Rachel Carson, Wissenschaftspoetin¹

Haben Sie schon einmal von der Meeresbiologin, Ökologin und Schriftstellerin Rachel Carson gehört? 1962 veröffentlicht sie "Der stumme Frühling", ein Werk über die Folgen der Pestizidnutzung. Warum sie auch für uns Museumsmenschen relevant ist, erfahren Sie in diesem Diorama.

Carson war eine bedeutende Persönlichkeit der Umweltbewegung, manche bezeichnen sie sogar als deren Pionierin. 2014 geht der Deutschlandfunk so weit, sie als „Mutter aller Ökos“ (Hillauer 2014) zu bezeichnen. Wieder einmal wird eine Frau auf ihr Geschlecht reduziert. Schon klar, wie der Deutschlandfunk das meint. Vermutlich soll sogar eine positive Konnotation geweckt werden: Die Mama, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmert. Sie hat die Umweltbewegung erschaffen, zum Leben erweckt, geboren. Jede Person, die selbst gebärt hat – sei es vaginal oder Bauchgeburt – oder zumindest die Hand dieser Person währenddessen gehalten hat, weiß, was für eine Urkraft darin liegt. Eine Kraft, die entsteht, weil sie in dem Moment da sein muss. Ebenso hat sich wohl auch Carson gefühlt, als sie mit schwerer Krankheit Der stumme Frühling schrieb. Einmal auf das Thema Pestizidnutzung aufmerksam geworden, musste sie sich damit auseinandersetzen. Doch entfernen wir uns nun von der „Mutter-Metapher“. Frauen sind mehr als die Rolle, die sie dem Patriarchat zufolge einnehmen sollen. Widmen wir uns lieber der Frage: Wer war Rachel Carson?

Kindheit und Ausbildung

Carson wird 1907 in Springdale, Pennsylvania, USA, als jüngstes von drei Kindern geboren. Von klein auf lernt sie den achtsamen Umgang mit der Natur, denn Carsons Mutter bezieht ihre Kinder in ihre Tier- und Naturbeobachtungen mit ein.

Seit ihrer frühesten Kindheit will sie Schriftstellerin werden, beispielsweise schenkt sie ihrem Vater zum Geburtstag ein selbst geschriebenes und gebasteltes “Buch” mit 10 Seiten. (Lear 2009: 16f.) Im Kindermagazin „St. Nicholas for Boys and Girls“ werden Geschichten von ihr veröffentlicht.²

1925 beendet Carson die Highschool und studiert Englische Literatur am Pennsylania College for Women. Die Historikerin Jill Lepore schreibt im Vorwort der Neuausgabe vom stummen Frühling: „Ihre Mutter verkaufte Äpfel, Hühner und das Familienporzellan, um die Studiengebühren zu bezahlen, und fuhr jede Woche von der Farm zum College, um die Arbeiten ihrer Tochter zu tippen (und später auch Carsons Bücher). Ein Grund war wohl, dass sie sich, wie so viele Mütter, selbst nach Bildung sehnte.“

Carson besucht am College auch einen Biologiekurs und wird dadurch an ihre Liebe zur Natur erinnert. 1928 wechselt sie daher das Hauptfach zu Biologie. Sie geht davon aus, ihre schriftstellerischen Ambitionen nun beiseite legen zu müssen, doch wie sie feststellen wird, gibt ihr das neue Studium nur etwas, worüber sie schreiben kann. (Richardson 2021: 115) Sie macht ihren Masterabschluss in Zoologie an der John Hopkins University in Baltimore. Anschließend ist sie an dieser und einer anderen Universität tätig und beginnt ihre Promotion. Doch da sie ihre Familie – Eltern, die geschiedene Schwester und zwei Nichten – ernähren muss, nimmt sie eine besser bezahlte Arbeit bei der US-Fischereibehörde als Redakteurin an. Nebenbei schreibt sie Fachartikel für Zeitschriften. (Deutschlandfunk 2014) 1935 und 1937 sterben Vater und Schwester, wodurch sie sich allein um ihre Mutter und die Nichten kümmern muss. Im Laufe der Zeit wird sie befördert, doch als sie ihren zum Waisen gewordenen Großneffen adoptiert, kündigt sie und widmet sich nur noch dem Schreiben.

Schriftstellerische Tätigkeit

Ihre Liebe zur wortgewandten Sprache zeigt sich in ihren Büchern, auch wenn diese sich mit biologischen Themen beschäftigen. Ihren Durchbruch hat Carson 1937 mit dem Aufsatz Undersea, der in der Zeitschrift The Atlantic erscheint. 1941 erscheint ihr erstes Buch Under the Sea-Wind (1947 auf deutsch, Unter dem Meerwind), zehn Jahre darauf The Sea Around Us und 1955 The Edge of the Sea.

Gerne würde ich all ihre Werke genauer vorstellen, doch nehmen wir uns lieber die Zeit für das Buch, das sie erst recht bekannt werden ließ und von dem sie – als Meeresbiologin, die sich bisher in diesem Themenfeld bewegte – wohl nicht gedacht hätte, dass Menschen sich wegen dieses Buchs an sie erinnern.

Der stumme Frühling (1962)

Grob gesagt setzt sich Carsons Werk mit den Folgen der Pestizidnutzung, vor allem DDT, auseinander. Dieses wird damals viel auf Farmen genutzt, aber auch in Privathaushalten.

Das erste Kapitel beginnt mit einem Märchen – oder vielmehr einer Fabel, wie es im englischen Original betitelt wird:
Es war einmal eine Stadt im Herzen Amerikas, in der alle Geschöpfe in Harmonie mit ihrer Umwelt zu leben schienen. Die Stadt lag inmitten blühender Farmen mit Kornfeldern, deren Gevierte an ein Schachbrett erinnerten, und mit Obstgärten an den Hängern der Hügel, wo im Frühling Wolken weißer Blüten über die grünen Felder trieben. Im Herbst entfalteten Eiche, Ahorn und Birke eine glühende Farbenpracht, die vor dem Hintergrund aus Nadelbäumen wie flackerndes Feuer leuchtete. Damals kläfften Füchse im Hügelland, und lautlos, halb verhüllt von den Nebeln der Herbstmorgen, zog Rotwild über die Äcker. (Carson 2019: 27)
Es folgen weitere Naturbeschreibungen: hohe Farne, die Gegend berühmt wegen ihrer „reichen Vogelwelt“, klare und kühle Bäche und Flüsse… Doch die Idylle, deren Trugbild schon im allerersten Satz angedeutet wird (Geschöpfe scheinen in Harmonie zu leben), endet abrupt:
Dann tauchte überall in der Gegend eine seltsame schleichende Seuche auf, und unter ihrem Pesthauch begann sich alles zu verwandeln. Irgendein böser Zauberbann war über die Siedlung verhängt worden: Rätselhafte Krankheiten rafften die Kükenscharen dahin; Rinde und Schaffe wurden siech und verendeten. Über allem lag der Schatten des Todes. Die Farmer erzählten von vielen Krankheitsfällen in ihren Familien. […] Es herrschte eine ungewöhnliche Stille. Wohin waren die Vögel verschwunden? (Carson 2019: 28)
Mir kommen da direkt Erinnerungen an die Lockdowns der Covid-19-Pandemie hoch. Leere Straßen, überall Nachrichten vom Tod, Ärzt*innen, die den Kranken kaum helfen können…

Doch Carson geht noch weiter: Ferkel sterben nach wenigen Tagen, Apfelbäume werden nicht mehr bestäubt, Fische verenden, die Straßen werden braun. Die Lesenden müssen nicht lange warten, um den Grund zu erfahren:
Kein böser Zauber, kein feindlicher Überfall hatte in dieser verwüsteten Welt die Wiedergeburt neuen Lebens im Keim erstickt. Das hatten die Menschen selbst getan. (Carson 2019: 29)
Nach diesem Gänsehautmoment spricht Carson die Lesenden direkt an. Diese Stadt würde es in echt nicht geben, aber jede dieser Geschehnisse habe sich schon zugetragen, und Carsons Buch möchte sich an einer Erklärung versuchen. Was für ein cleverer Einstieg in ihr Werk! Diese Worte sollten sogar Menschen in ihren Bann ziehen, die sonst nur Romane in die Hand nehmen.

Ich muss zugeben, dass Biologie in der Schule nicht mein Lieblingsfach war. Doch Carsons Stil schafft es, dass ich den Text förmlich als Ted Talk auf der Bühne sehe, ihn als Podcast höre – so eindrücklich kommt ihr Anliegen durch. Und das, obwohl er aus den 60ern stammt, also 60 Jahre alt ist! So viele Sätze haben einen zeitlosen Charakter. Hier nur eine kleine Auswahl:
„All das soll nicht heißen, dass es kein Insektenproblem gibt und es nicht notwendig ist, Schädlinge unter Kontrolle zu halten. Ich will vielmehr damit sagen, dass diese Kontrolle genau auf gegebene Tatsachen, nicht aber auf erdichtete Situationen abgestimmt sein muss und nur solche Bekämpfungsmethoden angewandt werden dürfen, die nicht zugleich mit den Insekten uns selbst vernichten.“ (Carson 2019: 35)
„Sind wir in einen hypnotischen Zustand verfallen, der uns das Minderwertige und Schädliche als unausweichlich hinnehmen lässt, so als hätten wir den Willen oder den Blick dafür verloren, das Gute zu fordern?“ (Carson 2019: 38)
Besonders folgender Abschnitt hat es mir angetan. Ersetzen Sie „Schädlingsbekämpfungsmittel“ einmal durch Klimakrise und Sie haben einen leider hochgradig aktuellen Text vor sich liegen:
Wir leben in einem Zeitalter von Spezialisten, von denen jeder nur sein eigenes Problem sieht und den größeren Rahmen, in den es sich einfügt, entweder nicht erkennt oder nicht wahrhaben will. Es ist aber auch ein Zeitalter, das von der Industrie beherrscht wird, in dem das Recht, um jeden Preis Geld zu verdienen, selten angefochten wird. Wenn die Öffentlichkeit protestiert, weil sie auf irgendeinen offenkundigen Beweis für die gefährlichen Folgen der Anwendung von Schädlingsbekämpfungsmitteln stößt, speist man sie mit kleinen Beruhigungspillen, mit Halbwahrheiten ab. Wir haben es dringend nötig, Schluss zu machen mit diesen falschen Versicherungen, die uns bittere Pillen durch einen Zuckerguss schmackhaft machen wollen. Schließlich verlangt man ja von der Allgemeinheit, dass sie die Risiken auf sich nimmt, die von den Leuten, die Insekten bekämpfen, berechnet werden. Das Volk muss entscheiden, ob es auf dem eingeschlagenen Wege weiterzugehen wünscht, und das kann es nur, wenn es alle Fakten genau kennt. (Carson 2019: 40)
Resonanz und Ehrungen

Carson schreibt Der stumme Frühling, während sie schon an Brustkrebs erkrankt ist. Sie stirbt am 14. April 1964 mit 56 Jahren, anderthalb Jahre nach Veröffentlichung des Buchs. Das Werk gibt den Anstoß für mehrere Umweltgesetze in den USA. Die Gründung der US-Umweltbehörde 1970 und das Verbot von DDT 1972 erlebt sie leider nicht mehr.

Silent Spring wird im Erscheinungsjahr das meistgelesene Buch in den USA. Dabei hat sicherlich nicht nur der eben erwähnte Schreibstil „poetisch, einfach, emotional“ (Westhoff 2022) geholfen, sondern vor allem, dass sie bereits eine bekannte Autorin war. Die Resonanz ist aber nicht nur positiv. Sie wird als hysterisch und fortschrittsfeindlich bezeichnet, man spricht ihr die wissenschaftliche Kompetenz ab. Solche Reaktionen sind wohl leider nichts Neues bei einer Frau, die ihre Stimme nutzt.

Durch sie lernen zahlreiche Bürger*innen und Politiker*innen, dass sie einen Einfluss auf ihre Umwelt nehmen (Richardson 2021: 115): „The book created worldwide awareness of the dangers of environmental pollution. It sparked a public debate over the idea that living things and their environment are interrelated and suggested that the planetary ecosystem was reaching the limits of what it could sustain.” (Richardson 2021: 117)

Sogar Präsident John F. Kennedy ist von ihr überzeugt und leitet mit Bezug auf Carsons Werk einen Untersuchungsbericht zu DDT an.

Heute ist Carson Namensträgerin mehrerer Ehrungen. Beispielsweise gibt es seit 1966 das Rachel Carson National Wildlife Refuge an der Südküste des Bundesstaats Maine und seit 1991 den Rachel Carson Prize, der an Frauen vergeben wird, die zum Umweltschutz beitragen. 2009 wird das Rachel Carson Center for Environment and Society von der LMU München und dem Deutschen Museum gegründet, das „Forschung zum Verhältnis von Mensch und Natur“ (Deutsches Museum online) befördern möchte – Umweltfragen werden auch aus geisteswissenschaftlicher Perspektive untersucht (bmbf online). In den USA soll das Springsong Museum aufgebaut werden, das an Carson erinnern will.

Die Soziologin Dorceta E Taylor merkt 2021 an, dass Carson, so brilliant sie auch war, dennoch ein “Objekt ihrer Zeit” war. Carson beschreibe zwar die gesundheitlichen Risiken der Pestizidnutzung, nehme aber keine intersektionale Analyse vor. Taylor fragt: Was haben diese für Effekte auf BIPoC, Gender und unterschiedliche Gesellschaftsschichten? (Taylor 2021: 487)

Schlussbemerkung

Carsons Biografie zeigt: Sie hat ihr Talent – das Schreiben – genutzt, um auf einen großen Missstand aufmerksam zu machen. Natürlich hat sie einige Privilegien genossen, doch ihre familiäre Situation und dass sie als Frau zu der Zeit in einem naturwissenschaftlichen Bereich arbeitete, zeigen ihren Tatendrang. Carson fand einen Weg, relevante Themen an die breite Masse zu vermitteln. Das können Museen sich abschauen: Immer an die Zielgruppe zu denken. Ja, das machen bereits viele. Ja, das sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Im gehetzten Alltag und in eigenen Automatismen gefangen kann es aber passieren, dass vorrangig offensichtliche Themen in klassischer Weise bespielt werden.

Erlauben Sie sich, um die Ecke zu denken, mit Menschen oder Vereinen zu kooperieren, die auf den ersten Blick vielleicht nicht zum Thema Ihres Hauses passen. Trauen Sie sich und Ihren Mitarbeitenden zu, die individuellen Stärken und Interessen auszuleben. Wer weiß, was daraus alles entstehen kann? Wir in Deutschland genießen das Privileg, unsere Stimme nutzen zu dürfen, ohne mit schlimmen Konsequenzen rechnen zu müssen. Lassen Sie uns laut sein. Für alle, die es nicht können. Für alle, die es noch nicht verstanden haben. Und für uns. Lassen Sie uns der Welt zeigen, dass wir für sie kämpfen.

Alia van den Berg

Anmerkungen:
¹ "Wissenschaftspoetin": Jill Lepore im Vorwort zur Neuauflage von "Der stumme Frühling".
² https://www.carsoncenter.uni-muenchen.de/download/sonstiges/rc-biography.pdf

Quellen:

Bundesministerium für Bildung und Forschung: Interview mit Prof. Dr. Christof Mauch und Prof. Dr. Helmuth Trischler. Online unter: https://www.geistes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/de/Rachel-Carson-Center-Interview-Mauch-Trischler.html [letzter Zugriff: 20.10.2023].

Carson, Rachel: Der stumme Frühling. Mit einem Vorwort von Jill Lepore. München 2019.

Deutsches Museum, Rachel Carson Center. Online unter: https://www.deutsches-museum.de/forschung/forschungsinstitut/projekte/detailseite/rachel-carson-center [letzter Zugriff: 20.10.2023].

Hillauer, Rebecca: Biografie über Rachel Carson. Die Mutter aller Ökos. In: Deutschlandfunk, 14.04.2014. Online unter: https://www.deutschlandfunk.de/biografie-ueber-rachel-carson-die-mutter-aller-oekos-100.html [letzter Zugriff: 10.10.2023].

Lear, Linda: Rachel Carson: Witness for Nature. 2. Aufl. 2009, Boston, New York.

Richardson, Shaughnessea: Conquering the Barriers Between Nature and Man: Rachel Carson and the Modern Environmental Movement. In: Pennsylvania History: A Journal of Mid-Atlantic Studies, 2021, Vol. 88 (1), S. 114-130.

Taylor, Dorceta E: A woman ahead of her time. In: Frontiers in ecology and the environment, 2021, Vol.19 (9), S. 487.

Westhoff, Andrea: Rachel Carsons “Der stumme Frühling” – Buch am Beginn der Öko-Bewegung. In: Deutschlandfunk, 27.09.2022. Online unter: https://www.deutschlandfunk.de/rachel-carson-stumme-fruehling-ddt-100.html [letzter Zugriff: 10.10.2023].

Literaturtipps:

Steiner, Dieter: Pionierin der Ökologiebewegung. Eine Biographie. München 2014.

Freeman, Martha (Hg.): Always, Rachel. The Letters of Rachel Carson and Dorothy Freeman. 1952-1964. An Intimate Portrait of a Remarkable Friendship. Boston MA 1995.
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