MFF Germany

#16 Allein in einer Welt voller Wunden

Im Rahmen der Sonderausstellung »MISSING!« am Naturkundemuseum Stuttgart wurden im September 2021 unter Durchführung eines Trauermarsches und einer Trauerfeier zehn ausgestorbenen Insektenarten gedacht. Foto: Caro Krebietke



Über die Trauer um das Klima


»Can there be genuine and lasting ecological renewal 

without a deep expression of grief and mourning 

for all that is being lost?« (Burton-Christie, 2011)


Wir leben in Zeiten immenser ökologischer Verluste. Der weltweit stattfindende Klimawandel nimmt inzwischen katastrophale Ausmaße an. Unser Planet verliert täglich (natürliche) Lebensräume und mit diesen die, die darin leb(t)en:
Pflanzen, Tiere und ja, auch Menschen. Jede Art, die wir verlieren, hat(te) auch einen Platz in uns. Nach ihrem Verlust bleiben Lücken zurück, die sich nur schwer oder auch überhaupt nicht neu füllen lassen. Es scheint das Schicksal unserer Zeit, das wir alle teilen, diese Zerstörung zu erleben. Gefühle wie Verzweiflung, Angst, Wut und auch Trauer werden in uns wach. Mit Letzterem möchten wir uns im Rahmen dieser Klimakolumne näher beschäftigen: der Trauer um das Klima. 


Der Begriff der Ökologischen Trauer ist seit einiger Zeit als Fachbegriff in der Psychologie und der Psychiatrie angekommen. Bereits in der Erklärung von Lissabon von 2019 heißt es:
»Der Klimawandel schadet der seelischen Gesundheit und dem Wohlergehen« (psychologyandglobalhealth.org, 2019). Der Psychiater, Psychotherapeut und Vorstandsmitglied der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit Dieter Lehmkuhl erklärt:
»Unter ökologischer Trauer versteht man eine tiefe Traurigkeit, die Menschen als Reaktion auf den Verlust ihrer Heimat oder des vertrauten Ökosystems empfinden« (Mecke, 2019). 


Phasen der Trauer
Trauer zeigt sich in vielen verschiedenen Formen und in einer Vielzahl an Emotionen, mit denen die*der Trauernde (oftmals) überwältigt wird. Obwohl jeder Mensch anders trauert, so ähneln sich, laut Studien, die verschiedenen Phasen, die im Prozess der Verlustbewältigung durchlebt werden: von Momenten des Nicht-Wahrhaben-Wollens, also dem Leugnen des Verlustes, über die Konfrontation mit unterschiedlichen Gefühlen, bis hin zum »Neueinordnen« der*des Verstorbenen im eigenen Leben. Die Dauer der einzelnen Phasen kann dabei stets variieren. Am Ende des durchlebten Trauerprozesses kann sich die*der Hinterbliebene wieder verstärkt dem eigenen Leben zuwenden und Pläne für die eigene Zukunft schmieden. Die*der Verstorbene bleibt ein Teil dieser Zukunft und lebt in Erinnerungen und Gedanken weiter (Kast, 1982). »Erfolgreiche« Trauer endet nie damit, das zu vergessen, was wir verloren haben. Vielmehr geht es in dem erlebten Schmerz um Veränderung und um die Akzeptanz von diesem. In der Trauerbewältigung geht es nicht darum, zu vergessen, sondern um die Neueinordnung des Verlustes in das eigene Leben. Schlussendlich geben wir uns in der Trauerarbeit einem Prozess hin, und akzeptieren, dass sich nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch unsere innere Welt verändert (Cunsolo & Landman, 2017).

Das Betrauern des Anderen
Während bereits die Trauer um einen verstorbenen Menschen schwer zu fassen ist, wird das Betrauern von »Nicht-Menschlichem«, wie beispielsweise einem Gewässer, zu einer abstrakten Aufgabe. Noch fehlt es uns an Ritualen, um mit dieser besonderen Form von »Weltschmerz« umzugehen. Die zu betrauernden Verluste machen sprachlos und handlungsunfähig.
»Die Unfähigkeit zu trauern, ist nicht nur ein Indikator für den Verlust von Empathie für unsere Umwelt, sondern für den Verlust von Verwandtschaftsbeziehungen, die von sozialer Bedeutung sind.« (Braun, 2008).

»For one species to mourn the death of another 

is a new thing under the sun.« (Leopold, 1949)


Die Idee der »Öko-Trauer« ist nicht neu, wie dieses Zitat von 1949 zeigt. Der bedeutende amerikanische Naturforscher Aldo Leopold beschreibt in seinem Buch »A Sand County Almanac« den emotionalen Schmerz durch ökologische Verluste: »Eine der Strafen einer ökologischen Erziehung«, schreibt er, »ist es, dass man allein in einer Welt voller Wunden lebt« (Leopold, 1949).

Und dennoch: Ökologische Trauer fällt bis heute in die Kategorie der »entrechteten Trauer« – einer sozial nur wenig oder nicht anerkannten Trauer. Ähnlich verhält es sich mit vielen anderen Arten von Verlusten: der Verlust eines Haustieres, der Verlust des Arbeitsplatzes, der Verlust von Besitztümern oder stigmatisierte Verluste wie beispielsweise durch Suizid oder durch eine Abtreibung. Der Umgang mit derartigen Erfahrungen wird kompliziert, wenn die Gesellschaft dem Individuum das Recht auf Trauer abspricht, den Verlust nicht würdigt oder es keine soziale Unterstützung für Trauernde gibt (Doka, 1989). 

Der Philosoph Burkhard Liebsch befasst sich in seinem Buch »Revisionen der Trauer« (Liebsch, 2006) unter anderem mit der Trauer und der Sichtbarkeit von Minoritäten. Er fordert:
»Es gibt andere, genealogisch, ethnisch und politisch nicht ‘bevormundete’ Trauer – Trauer um Andere als Andere, um das, was ihnen widerfahren ist und um den Verlust, dem das Widerfahrnis dieser Gewalt selber bedeutet. Es ist Zeit, Trauer als solche wahrzunehmen.« Er spricht sich für eine Trauer aus, die auch den Verlust »Fremder« und des »Fremden« ernst nimmt. Auf diese Weise kann Trauer als Methode für ein kulturelles Gedächtnis verstanden werden, und birgt zugleich eine Möglichkeit, für folgende Generationen vergangene Verluste zu realisieren. (Liebsch, 2006, 159f.)

Die Sozialwissenschaftlerin Ashlee Cunsolo führt diesen Gedanken fort und bekräftigt das Potenzial von Trauer als ein Phänomen, das in der Lage ist, den Körper anderer Lebewesen zu rekonstruieren und ihnen Individualität und einen Wert zuzusprechen (Cunsolo & Ellis, 2018). 

Komplexe Trauer
Ökologische Trauer unterscheidet sich in mancherlei Hinsicht von der Trauer um einen Menschen, denn oftmals sind wir Komplizen des Verlustes und tragen Mitschuld am Verschwinden von Arten und Ökosystemen. Es geht um Verlustverarbeitung, aber auch um den Umgang mit Schuldgefühlen. Die Religionswissenschaftlerin Nancy Menning schreibt: »Wir müssen nicht nur darum trauern, was wir verloren haben, sondern auch um das, was wir zerstört haben.« (Cunsolo & Ellis, 2018) 

Wie man ökologische Verluste gut betrauert – insbesondere wenn sie nicht eindeutig zu bezeichnen sind und immer zahlreicher werden – ist eine noch unbeantwortete Frage. Es ist jedoch eine Frage, von der zu erwarten ist, dass sie mit immer stärker werdenden Auswirkungen des Klimawandels drängender wird. 

Trauer als Katalysator für Handlung und Veränderung 
Wie eingangs beschrieben, birgt die Konfrontation mit Trauer um eine sich verändernde Lebensumgebung eine Gefahr für unsere psychische Gesundheit. Doch das Leid um erlebte Verluste kann in effektives Handeln verwandelt werden. 

Für Dieter Lehmkuhl ist die ökologische Trauer beispielsweise nicht negativ. Sie kann in seinen Augen sogar sehr produktiv sein. »Trauer gehört dazu, sie zuzulassen und nicht zu verdrängen ist wichtig, denn nur so kommt man eher in den Modus »Es muss etwas passieren« (Mecke, 2019). Leslie Davenport vom California Institute for Integral Studies schreibt in ihrem Buch »Emotional Resiliency in the Era of Climate Change«: »Dem Trauerprozess und unserem natürlichen Fluss der Emotionen zu vertrauen, hat große Kraft. Wir können unser Leid in Leidenschaft und effektives Handeln verwandeln.« (Davenport, 2017) Erst erschrecken und dann handeln, lautet die Devise. Schlussendlich geht es darum, wahrgenommene Schuld und Trauer über aktuelle Zustände in gegenwärtige und künftige Handlungen, z. B. (Klima-)Aktivismus, zu transformieren und die moralische Verantwortung dafür zu übernehmen, vergangene Fehler nicht zu wiederholen. 

Wie vorher beschrieben, hilft der Trauerprozess dabei, eine Verbindung zu anderen zu schaffen und deren Verletzlichkeit, aber auch deren Endlichkeit anzuerkennen. Trauer kann dann eine offenkundig politische und ethische Form annehmen und zu dem werden, was der Kulturkritiker Clifton Spargo als »widerständige Trauer« (resistant mourning) bezeichnet.
Diese widerständige Trauer wird zu einem ethischen Protest gegenüber Strukturen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die den Tod und den Verlust einiger Körper (von Tieren, Landschaften u. a.)  trivialisieren und minimieren – Trauer wird zu einem politischen Akt (Spargo,2004). 

Die Philosophin Judith Butler schreibt, dass wir in unserer Trauer einen Teil von dem preisgeben, was uns ausmacht und Aufschluss darüber gibt, welche Beziehungen wir zu anderen pflegen.
Für Butlers haben Kummer und Trauer demnach die Funktion, ein »Wir-Gefühl« entstehen zu lassen. Dieses Gefühl kann dabei helfen, bislang unbekannte Verbindungen zu anderen (ganz gleich, ob Mensch, Tier, Pflanze oder Ökosystem) aufzudecken, Unterschiede zu überwinden und Verbindungen zueinander herzustellen. Trauer um die uns umgebende Natur macht uns deutlich, welche Art von Beziehung wir mit unserer Umwelt eingehen, kreieren und – im schlimmsten Fall – verlieren (Butler, 2009). 

Ökologische Trauer entsteht aus der Erkenntnis, dass unsere Existenz und unser Wohlbefinden mit anderen Leben verflochten sind – eine Einsicht, die in unserer aktuellen Weltanschauung und Konsumweise viel zu oft fehlt. Sich daran zu erinnern, wie eng unser Leben mit anderen verbunden ist, wird von grundlegender Bedeutung sein, um unser kollektives Überleben zu sichern. Daher: Lass deine Trauer zu. Sie ist ein Zeichen dafür, dass alte Abwehrmechanismen und Verleugnung abgelegt werden. Und genau das brauchen wir jetzt im Kampf für unseren Planeten: Loslassen von Altem, Verbindung mit dem, was uns wichtig ist, und Handlung, um das, was bleibt, wertzuschätzen und zu bewahren.

Tanja Müller


Quellen

Braun, Sebastian Felix (2008): Buffalo Inc.: American Indians and Economic Development. University of Oklahoma Press: Norman. 

Burton-Christie, Douglas (2011): The Gift of Tears: Loss, Mourning, and the Work of Ecological Restauration, in: Worldviews, Nr. 15.

Butler, Judith (2009): Frames of War: When Is Life Grievable?, Verso Books: London.

Cunsolo, Ashlee & Ellis, Neville R. (2018): Ecological grief as a mental health response to climate change-related loss, in: Nature Climate Change Nr. 8.

Cunsolo, Ashlee & Landman, Karen (2017): Mourning Nature: Hope at the Heart of Ecological Loss and Grief, McGill-Queen’s University Press: Montreal. 

Davenport, Leslie (2017): Emotional Resiliency in the Era of Climate Change, Jessica Kingsley Publishers: London.

Doka, Kenneth J. (1989): Disenfranchised Grief. Recognizing Hidden Sorrow, Lexington Press: Lexington. 

Mecke, Alice (2019): »Öko-Trauer: Wenn der Klimawandel die Psyche belastet”, unter: https://www.rnd.de/wissen/oko-trauer-wenn-der-klimawandel-die-psyche-belastet-ZXKZDCNPCFBZ5FO4FWZDCJRRDY.html (abgerufen am: 28.09.2022). 

Kast, Verena (1982): Trauern – Phasen und Chancen des psychischen Prozesses, Kreuz Verlag: Stuttgart.

Leopold, Aldo (1949): A Sand County Almanac: And Sketches Here and There, Oxford University Press: Oxford. 

Liebsch, Burkhard (2006): Revisionen der Trauer: In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Velbrück Wissenschaft: Weilerswist-Metternich.

Psychologyandglobalhealth.org: Psychology and Climate Action, (abgerufen am: 15.10.2022). 

Spargo, R. Clifton (2004): The Ethics of Mourning: Grief and Responsibility in Elegiac Literature, John Hopkins University Press: Baltimore. 



Klimakolumne