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#24 Ticktack, Ticktack… Über einige Zusammenhänge von Nachhaltigkeit und Zeit

Titelbild: Jessica Mangano, Unsplash

Aus den Medien kennen wir diesen Zusammenhang vielleicht: Nachhaltigkeit und Zeit. Vielleicht auch eher in der Kombination: Klimakrise und Zeit. Denn wir haben keine mehr. Zeit verfliegt, zerrinnt uns in den Fingern, während die Klimakrise weiter voranschreitet der größte Teil der Menschheit darauf wartet, dass andere etwas tun, hoffen und arbeiten weltweit Viele daran, einen kleinen Teil der Menschheit dazu zu bewegen endlich die politische Hebel für eine klimagerechte Welt umzulegen. So viel, um die gute Laune aufrechtzuerhalten. Aber ich schweife ab.

Uns schwebt vermutlich allen eine Schlagzeile vor Augen, die „Zeit“ und Krise zusammenbringt. In etwa „Gibt nur einen bestimmten Zeitraum“ oder „Noch weniger Zeit für 1,5-Grad-Ziel?“.(1) Oft ist auch die Rede davon, dass „jetzt“ etwas getan werden muss. Oder dass schon etwas hätte getan werden müssen. Ohne auf das vielschichtige und gar nicht so eindeutige Konzept der Zeit einzugehen, scheint Zeit in Fragen der Nachhaltigkeit und des Klimawandels sehr entscheidend zu sein.

Kein Wunder, denn sie, die Zeit, ist schon in ihren frühesten Anfängen elementarer Bestandteil des Konzepts Nachhaltigkeit, auf das wir uns heute alle so fleißig berufen. Um das genauer zu verstehen, blicken wir kurz in der Geschichte zurück. Genauer: ins heutige Sachsen, ins Erzgebirge, nach Freiberg. Eine Gegend, die sich durch – der Name verrät es schon – seine Erzvorkommen auszeichnet. Das Problem: für die Verhüttung von Erzen ist eine Menge Holz vonnöten. Das Erzgebirge ist eine waldreiche Region, doch die verarbeitende Industrie wächst, wird immer effizienter, benötigt immer mehr Holz. Wenig überraschend, dass Holz irgendwann knapp und teuer wird. Hier kommt ein Oberberghauptmann ins Spiel, dessen Namen einigen vielleicht ein Begriff ist: Hans Carl von Carlowitz. 1713 veröffentlichte Carlowitz seine Schrift mit dem Titel Sylvicultura oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht Anweisung zur wilden Baumzucht. Darin findet sich folgender Abschnitt, in welchem der Begriff der Nachhaltigkeit seine Wurzeln hat: „wie eine sothane (eine solche) Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen, daß es eine continuierliche beständige und n a c h a l t e n d e Nutzung gebe / weil es eine unentbehrliche Sache ist / ohne welche das Land seinem Esse nicht bleiben mag. (Herv. i. O.).“(2) Auf eine kurze Formel gebracht: Um den Wald auf Dauer erhalten zu können, darf nur so viel Holz entnommen werden, wie der Wald in der Lage ist, neu zu produzieren. Carlowitz geht noch weiter, wenn er darauf verweist, dass von der Gesundheit des Waldes auch das Leben der BewohnerInnen abhängt, weil er sie nicht nur mit Bau- und Brennmaterial versorgt, sondern die auf ihn bauende Industrie Arbeitsplätze hervorbringt und Gewinne abwirft, die die Versorgung der Armen, Kinder und Alten ermöglicht. Grundlage ist die Erkenntnis, dass die Natur, in diesem Falle der Wald, einen eigenen Rhythmus hat bzw. eine bestimmte Spanne braucht, um sich regenerieren zu können. Im Grunde leicht verständlich und nachvollziehbar. Die Misere beginnt dann, wenn der Mensch sich von den natürlichen Rhythmen abzukoppeln beginnt, ignoriert bzw. versucht, der Natur eine industrielle Taktung aufzuzwingen.

Einige Zeit funktionierte das für den westlichen Teil der Welt ganz gut, indem sie Natur und Bewohner*nnen anderer Kontinente ausbeuten. Die Rechnung der wenigen halten wir nun alle in den Händen. Die Krise der Artenvielfalt und der Stress der Ökosysteme ist u. a. dadurch hervorgerufen, dass wir Menschen ein System geschaffen haben, das glaubt, sich auf Dauer von den Rhythmen der Natur loslösen zu können. Unsere Gesellschaft hat eine Geschwindigkeit entwickelt, die mittlerweile weder den Eigenzeiten der Natur, der Tiere noch der des Menschen berücksichtigt. Stress auf allen Seiten ist die Folge. Das ist der Grund, warum es einige Theoretiker*innen gibt, die die ökologische Krise als Zeitkrise bezeichnen.(3) Das heißt nicht, dass wir wieder alle in Hütten im Wald leben sollten, ohne Strom und Sanitäranlagen. Das wäre genau so naiv, wie weiterzumachen wie bisher.

Nachhaltigkeit an sich, auch wenn das einigen so vorkommen mag, ist kein feststehendes Konstrukt. Es gibt keinen klar vordefinierten Weg, den wir einfach nur gehen müssten. Leider ist es etwas komplizierter. Wege (ich verwende bewusst den Plural) müssen erdacht, probiert und ausgetestet werden. Damit eine nachhaltigere Gesellschaft auch eine gerechtere, inklusivere und diverse Gesellschaft ist, müssen möglichst viele verschiedene Stimmen in den Entwicklungs- und Erprobungsprozess involviert werden. Partizipation ist das Stichwort. Und Partizipation ist zeitaufwendig. Im Umwelt- und Nachhaltigkeitskontext noch mehr als ohnehin schon. Dabei ist es hier besonders wichtig, Zeit für Erklärungen zu haben, zuzuhören, wenn Sorgen geäußert werden. Nur wer zuhört, kann gezielt auf sie eingehen und sie im besten Falle mit einer guten (Klima-) Kommunikation nehmen.(4)

Diese zeitliche Komponente bringt weitere Schwierigkeiten mit sich. Partizipative Angebote, die auf Bürger*innenbeteiligung angewiesen sind, finden im Freizeitbereich statt. Blicken Sie doch selbst mal in ihren Kalender und überlegen Sie, wann Sie Zeit für eine ehrenamtliche Tätigkeit hätten. Dann fällt vielleicht auf, dass Sie auch die eine Freundin schon länger mal auf einen Kaffee treffen, mal ins Theater oder noch mal zum Sport gehen wollten. Wahrscheinlich gibt es genug Angebote und Aktivitäten, mit denen Sie ihre Freizeit füllen (könnten). Falls Sie etwas Zeit gefunden haben, gilt es danach zu klären: Wer passt dann auf die Kinder auf, geht mit dem Hund raus, kocht essen oder geht für die alte Dame von nebenan einkaufen?(5) Und ein bisschen Zeit brauchen wir ja auch einmal für uns selbst, um „einfach nur hier sitzen“ zu können, wie im Sketch von Loriot. In einer beschleunigten Gesellschaft, in der wir immer öfter das Gefühl haben, wir hätten zu wenig Zeit das zu tun, was wir gern würden, ist es manchmal schwer, Zeit für Dinge zu finden, die in unserer Prioritätenliste etwas weiter unten stehen. Das ist der Grund, warum Zeitmangel als häufigstes Hemmnis für die Nichtbeteiligung an partizipatorischen Prozessen angegeben wird. Das geht auch zu Lasten der Vielstimmigkeit. Nur wer es sich leisten kann, Care-Aufgaben aufzuteilen oder für eine Zeit abzugeben (an Partner*innen, Verwandte, Freund*innen oder bezahlte Dritte), ohne massig Überstunden oder Zweitjob, mehr Freizeit hat oder grundsätzlich selbstbestimmter über seine Zeitgestaltung bestimmen kann, ist in der Lage, an gesellschaftsbildenden Prozessen teilzuhaben. Seine Perspektive und Wünsche einzubringen und Veränderungen mitzubestimmen. Und diese Gruppe ist nicht so divers wie die Gesellschaft, in der wir alle zusammenleben. Die Soziologen Björn Wendt und Jens Köhrsen sprechen darum auch von einer Elitisierung der Demokratie.(6)

Was kann das nun für den Alltag im Museum heißen? Erkennen Sie die Zeit als das an, was sie ist. Etwas, was nicht nur vorbei geht und deren Wert sich aus den verschickten E-Mails bemisst. Erkennen wir den (möglichen) Wert der Zeit an, kann das dazu führen, dass wir unsere Prioritäten überdenken. Womit verbringe ich eigentlich meine Zeit? Und hat das einen Mehrwert für mich, das Team oder das Museum? Am wertvollsten erleben wir Zeit meist, wenn sie keine Rolle spielt. Wenn wir uns verlieren. In einem Gespräch, in einer Tätigkeit oder unseren Gedanken. Das kann man nicht erzwingen (und sollte es auch nicht), aber man kann Möglichkeiten dafür schaffen. Schenken Sie Ihren Besucher*innen Aufmerksamkeit. Geben Sie Mitarbeiter*innen Zeit, eigene Ideen zu entwickeln oder Dinge zu recherchieren (vielleicht finden sie die absolut passende Lösung für ein modulares Sockelsystem), machen Sie das Teammeeting zu einem Meeting, in dem ohne allzu viel Termindruck frei Ideen ausgetauscht werden können. Oder überlegen Sie mal, eine Ausstellung weniger zu machen. Planen Sie in ihren pädagogischen Angeboten unbestimmte Zeit, zu in denen sich die Bedürfnisse der Teilnehmer*innen artikulieren können. Zu einem wirklichen Austausch gehört es auch zuzuhören und auf den*die andere einzugehen. Zu guter Letzt: Überlegen Sie doch mal, wie es wäre, eine Ausstellung weniger zu machen. Sehr wahrscheinlich bedeutet es weniger Stress für Mitarbeitende und auch für die Umwelt.

Johanna Gebhardt

Quellen:
(1) u. a. https://www.tagesschau.de/wissen/klima/weltklimarat-bericht-101.html; https://www.tagesschau.de/wissen/klima/erderwaermung-100.html
(2) Grober, U. (2010). Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München.
(3) u. a. Harald Lesch, Karlheinz Geißler, Jonas Geißler: Alles eine Frage der Zeit. Warum die „Zeit ist Geld“-Logik Mensch und Natur teuer zu stehen kommt (2021); Barbara Adam, Karlheinz Geißler u. a.: Ökologie der Zeit (1998).
(4) Schrader, C. (2022). Über Klima sprechen. Das Handbuch. (klimafakten.de, Hrsg.) München.
(5) Wie die Zeitverteilung das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bestimmt beschreibt Frigga Haug in Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke (2008), Theresa Bücker zeigt eindrücklich und gut verständlich in Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit (2022) wie diese Verteilung mit zur Krise in den Care-Berufen und dem schwindenden gesellschaftlichen Engagement beiträgt.
(6) Wendt, B., & Köhrsen, J. (2022). Time for Change? Zeit als Herausforderung für Nachhaltigkeitspartizipation. Gaia. Ecological Perspectives for Science and Society(31), S. 215-221. Abgerufen am 21. April 2023 von https://www.oekom.de/_files_media/zeitschriften/artikel/GAIA_2022_04_215.pdf

Literatur:
Adam, B., Geißler, K. A., Held, M., Kümmerer, K., & Schneider, M. (1998). "Ökologie der Zeit" - Der Ausgangspunkt. Ökologie der Zeit. Vom Finden des rechten Zeitmaße (Schriftenreihe zur politischen Ökologie), 7, S. 5-7.

Bücker, T. (2022). Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Berlin.

Grober, U. (2010). Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München.

Haug, F. (2008 (eBook 2015)). Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik für Frauen für eine neue Linke. Hamburg.

Schrader, C. (2022). Über Klima sprechen. Das Handbuch. (klimafakten.de, Hrsg.) München.

Wendt, B., & Köhrsen, J. (2022). Time for Change? Zeit als Herausforderung für Nachhaltigkeitspartizipation. Gaia. Ecological Perspectives for Science and Society(31), S. 215-221.
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